Warum ich Silvester hasse

Im Sommer 1999 habe ich die Mitte der Woche geliebt. Jeden Mittwoch gab es die New-Faces-Party. Ich habe viel zu spät verstanden, dass der Titel der Party den DJs und nicht den Gästen gewidmet war. Anfangs hielt ich den Namen für eine dreiste Lüge. Schließlich waren es jede Woche die immer gleichen 200-300 Gesichter. Von New-Faces konnte man vielleicht in den Sommerferien sprechen, wenn ein paar ältere Schüler_innen sich unter die Besucher_innen mischten und manchmal sogar unter der Woche Warteschlangen am Eingang verursachten. Das schönste am Feiern zu dieser Zeit war es, dass man das Gefühl hatte sich rhythmisch in die entgegengesetzte Richtung des Mainstream zu bewegen. Berlin kam uns noch so riesig vor. Und der Tresor war nur so ein kleiner Fleck, irgendein Keller, genau in der Mitte vom Rest. Wenn alle anderen den Fernseher ausgemacht haben, dann sind wir losgegangen. Wenn sie sich längst hingelegt haben, dann haben wir unsere 5 D-Mark Eintritt bezahlt. Dann ein erstes Getränk in einem der lustigen Gläser mit dem Tresor-Logo gekauft. (Die Gläser, die sich im Laufe der Nacht und des vormittags draussen in unserem Auto gestapelt haben.) Wenn sie gleichmäßig atmend geschlafen haben, dann pulsierten unsere Schläfen, die Augen waren aufgerissen, die Schweißtropfen spritzten und wir stampften unten im Keller oder oben auf den Holzdielen, die so schön unter den Füßen vibrierten, wenn der ganze Raum getanzt hat. Wenn sie aufgestanden sind und sich für die Arbeit frisch gemacht haben, dann haben wir gestunken. Und nur ein paar dutzend Verrückter gehörte man an, wenn der Keller schon geschlossen war und ein paar verirrte Sonnenstrahlen den Weg auf die Tanzfläche des Globus fanden. Ein paar Millionen Menschen arbeiteten dann um uns herum, tippten auf Computer-Tastaturen, füllten Papiere aus, bauten gerade ein Fenster ein, schmierten Teer auf die Straße. Wir waren völlig in Ekstase, lächelten uns an, bewegten uns weiter zur Musik. Minuten der Anspannung auf der Tanzfläche folgten unvergessliche Entladungen, die alles zum Hüpfen brachten. Immer viel zu früh kam noch einmal „Nowhere to go“ und es war klar, bald geht das Licht an. Draussen kamen wir uns dann vor wie Außerirdische. Der Rest der Welt hastete vorüber, Bauarbeiter fuhren mit ihren Sixpaks vorbei und warfen einem verächtliche Blicke zu, weil man das zugedröhnte Grinsen nicht von seinem Gesicht weg bekam. Hier waren wir nur zu Besuch. Das war nicht echt. Wie haben wir es geliebt uns noch eine Flasche Sekt aus dem Auto zu holen und noch ein bisschen auf der Watte unter uns spazieren zu gehen, Richtung Alexanderplatz am Donnerstag Mittag. Oder auf die Baustelle links vom Tresor. Hier sollte irgendwann mal der Potsdamer Platz entstehen. Und kein bisschen hat es uns gestört, dass wir danach noch zwei Stunden Auto fahren mussten, bis irgendein Bett in Sicht war. Es war Donnerstag abends, wenn wir unseren Takt langsam wieder verlassen haben und uns wieder in den Takt des Mainstream eingereiht haben. Zurück im Strom. Nur den Freitag überstehen und dann ist wieder Wochenende. Natürlich ist meine Erinnerung verklärt. Wir waren ja gerade erst ausgebrochen aus dem Mief der Kleinstadt. Diese Zeit wäre so oder so großartig gewesen. Trotzdem verbinde ich mit Silvester genau das Gegenteil dessen, was ich an den Mittwochspartys geliebt habe. An Silvester sind die zwei oder drei Millionen Menschen, die an jedem Donnerstagvormittag um uns herum arbeiteten auf den Tanzflächen. Die 200-300 Faces gehen in ihnen unter, werden im Strom mitgerissen, zerquetscht und platt getrampelt. An den Orten mit der Musik herrscht die Primitivität und Dummheit der Masse. Sie lächelt nicht, sondern sie lacht schallend und gröhlend. Sie brüllt „Jawoll!“ und quillt so über, dass sie es in der Silvesternacht sogar in die entlegensten Winkel schafft. Es gibt in dieser Nacht keinen öffentlichen Ort, der nicht von ihnen penetriert wird. Deshalb ist es jedes Jahr am 31.12. bei Einbruch der Dunkelheit Zeit die Straße zu verlassen, sich zu verstecken und erst am kommenden Mittag wieder hinaus zu gehen. Ihr Dreck liegt dann noch überall rumm, aber sie selbst liegen in ihren Betten und die Luft ist wieder ganz klar und frisch ohne sie.

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